Die zentralen Bausteine im Umgang mit Whistleblowern
Hallo Herr Stuke, Sie sind Kriminologe und schulen gemeinsam mit Frau Prof. Dr. Fehr die Meldestellen-Beauftragten im richtigen Umgang mit Hinweisgebern. Psychologie und Kommunikation sind dabei sehr wichtige Bausteine. Warum sind diese beide Aspekte so elementar vor dem Hintergrund der anstehenden Gesetzeslage mit dem kommenden Hinweisgeberschutzgesetz?
Weil die Unternehmen mit diesem Wissen nicht nur bessere Informationen für ihre Ermittlungen erhalten, sondern vor allem ihr Risiko minimieren, dass kritische Sachverhalte an die externen Meldestellen der Behörden gelangen und damit für sie ausser Kontrolle geraten. Leider haben viele Unternehmen an dieser Stelle noch einen blinden Fleck, weil sie darauf vertrauen, mit der Etablierung eines Meldekanals alle notwenigen Voraussetzungen geschaffen zu haben, um einen möglichen Skandal verhindern. Das könnte aber ein fataler Irrtum sein, wenn man sich die internationale Datenlage¹ anschaut:
In über 90 % der Fälle bevorzugen Hinweisgeber die interne Meldung gegenüber einer externen. Das hat mit Pflichtbewusstsein gegenüber ihrer Organisation, instinktivem Normalverhalten und dem gesunden Menschenverstand zu tun, der eine Problemlösung zunächst immer erst auf der Ereignisebene vorschreibt. Allerdings muss man wissen, dass bei 85% aller externen Meldungen immer erst mindestens eine interne Meldung vorausgegangen war, die aus Sicht des Hinweisgebers nicht zufriedenstellend bearbeitet wurde.
Wie Sie die interne Meldung fördern
Was können Unternehmen tun, um eine externe Eskalation zu vermeiden?
Unternehmen haben eine gute Chance, wenn sie sich an entscheidender Stelle richtig verhalten, denn Frustrationserlebnisse sind der grosse Treiber für externe Offenlegung. Bei internen Meldungen finden wir oftmals eine Prävalenz altruistischer Beweggründe, weil es für den Hinweisgeber ‚nur’ um das Beenden eines Missstandes geht.
Externes Whistleblowing ist hingegen oftmals von einer egoistischen Vergeltungsmotivation gekennzeichnet, bei der der Hinweisgeber das Unternehmen für sein Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen sehen will. Man muss immer berücksichtigen, dass sich Hinweisgeber in einer akut-individuellen Ausnahmesituation befinden, wenn man mit ihnen kommuniziert. Die Gefahr, dass sich ein Hinweisgeber nicht richtig verstanden oder ernst genommen fühlt und deshalb zu Kurzschlussreaktionen neigt, ist gross.
Es ist somit nicht nur die Frage des Vorhandenseins eines Meldekanals, sondern auch die seines psychologisch-kompetenten Betriebs. Schliesslich ist jedes Tool immer nur so gut wie sein menschlicher Anwender.
Wenn man so will, sind die Meldestellen-Beauftragten die letzte Brandmauer, die das Unternehmen vor unangenehmen Folgen schützen kann.
Den Hinweisgeber wie einen Kunden betrachten
Es ist also nicht nur eine Frage, ob sich ein Hinweisgeber zur Meldung entschliesst, sondern vor allem auch des “Wie”?
Korrekt. Es geht dabei um die gesamtheitliche Qualität einer Meldestelle. Unternehmen sollten ihre Hinweisgeber als Kunden sehen, denen sie einen sicheren, leicht handhabbaren und damit niederschwelligen Zugang zum Meldekanal zur Verfügung stellen und diesen Kanal müssen die Unternehmen Hinweisgeber-zentriert betreuen.
Die kriminologische Forschung zeigt, dass wir in Zukunft einen regelrechten Qualitätswettbewerb zwischen interner und externer Meldekanäle erleben werden. Der Staat weiss um die hohe Dunkelfeldproblematik in Unternehmen und Organisationen, die für ihn nur sehr begrenzt zugänglich ist. Deshalb will er Hinweisgeber animieren, sich öffentlichen Stellen zuzuwenden.
Dies kann man schon daran erkennen, dass Unternehmen potentielle Hinweisgeber zukünftig z. B. auf Ihrer Website mit einem Disclaimer darüber informieren müssen, dass sie ein Wahlrecht zwischen interner oder externer— also behördlicher — Meldung haben. Unternehmen müssen sogar noch klare und leicht zugängliche Informationen über die Erreichbarkeit der externen, behördlichen Meldestellen veröffentlichen. Die EU-Whistleblower-Richtlinie (WBRL 1937/2019) hat dies den nationalen Gesetzgebern in Artikel 9 (1) lit g. WBRL vorgegeben.
Deshalb ist es umso wichtiger, den Hinweisgeber auch nach seiner internen Meldung in seiner Entscheidung zu bestärken, den richtigen Kanal gewählt zu haben, um ihn dann weiter konsequent an diesen zu binden.
Wie sieht eine solche Bestätigung aus?
Indem Sie z. B. die Eingangsbenachrichtigung, zu der die Unternehmen gesetzlich verpflichtet sein werden, mit einer freundlichen, persönlichen und vertrauensvollen Botschaft der/des Meldestellen-Beauftragte/n verknüpfen.
Niemand möchte nur als Fallnummer gesehen oder behandelt werden. Und das schon gar nicht, wenn man sich nach einer langen und schwerwiegenden Kostenabschätzung zu einer Meldung entschliesst.
Aus Forschungsstudien² im Auftrage des BKA weiss man, dass sich Zeitfenster für eine Aussagebereitschaft kurz öffnen und wieder schliessen. Deshalb ist es umso wichtiger, den richtigen Moment zu nutzen und umgehend zu handeln.
Das ist ein grosser Vorteil digitaler Meldekanäle, weil sie z. B. im Gegensatz zu einem Briefkasten für eine schnell-responsive Kommunikation ausgelegt sind. Ein solches Schreiben könnte z. B. sofort erscheinen, wenn sich der Hinweisgeber eine digitale Postbox einrichtet.
In unseren Seminaren zeigen wir den Teilnehmern, welche psychologische Kriterien in einem solchem Begrüssungstext enthalten sein sollten, damit man schon ‚automatisiert‘ potentielle Ängste und Befürchtungen in einer Art Standardauskunft ausräumen kann. Auch ein vorgefertigtes Schreiben der Unternehmensleitung, in dem sie sich bei dem Whistleblower für diesen „couragierten Schritt“ bedankt, entfaltet eine wirksame Verstärkerfunktion.
Das “Behaviorial Change Stairway”-Model
Sie sprachen vorhin von der Bindung des Whistleblowers an den Meldekanal. Was muss man sich darunter vorstellen?
Als Unternehmen wollen wir einen Hinweisgeber zu einer umfassenden und uneingeschränkten Kooperation bewegen. So wird die Sachverhaltsaufklärung schneller und günstiger. Das geht aber nicht einfach per Knopfdruck. Hinweisgeber hadern mit der Entscheidung oft sogar noch nach ihrer Meldung. Es braucht daher einen systematischen Ansatz, um ängstliche und zögerliche Personen für eine Kooperation zu gewinnen. Deshalb schulen wir die Meldestellen-Beauftragten in dem sogenannten „Behaviorial Change Stairway Model“. Das ist ein Kommunikationsmodell, das vom FBI als Rahmenkonzept für Geiselnahmeverhandlungen entwickelt wurde und zum internationalen Standard für solche Szenarien avancierte.
Wie funktioniert dieses Model?
Das ist ein Stufenkonzept, bei dem Sie mehrere Schritte durchlaufen, bevor Sie einen Hinweisgeber direkt zu überzeugen versuchen. In unseren Schulungen konzentrieren wir uns vornehmlich darauf, wie man dieses Model bei schriftlichen Meldungen anwendet, weil sie den Grossteil der Hinweise ausmachen.
Zunächst einmal muss man einen Hinweis ‚richtig lesen‘ und verstehen. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht immer. Wenn man sich beim Lesen auf Sachinformationen und Fakten konzentriert, übersieht man wichtige Zwischentöne. Hier geht es um Bedürfnisse, Ängste und Befürchtungen, die Hinweisgeber offenkundig oder auch unbewusst durch ihre Wortwahl mitteilen.
Psychologie und Empathie: Durch die Brille des Hinweisgebenden schauen
Welche Fehler machen manche Unternehmen an dieser Stelle?
Viele Unternehmen übergehen oder überlesen diese Äusserungen, weil das Innenleben des Whistleblowers nachrangig gegenüber dem Aufklärungsinteresse erscheint. Whistleblower sehen das naturgemäss anders, weil sie das alleinige Kostenrisiko tragen und sich deshalb eine adäquate Berücksichtigung ihrer persönlichen Interessen nicht nur erhoffen, sondern diese erwarten.
Wir zeigen den Teilnehmern in unseren Seminaren, wie man mit der sog. Sequenzanalyse solch ungetarnte Nebensächlichkeiten in einem Text entdeckt, um das Anliegen des Hinweisgebers besser zu verstehen. Auch Sicherheitsbehörden nutzen die wissenschaftliche Sequenzanalyse zur Auswertung von Entführer- und Erpresserschreiben. Dies ist sozusagen das Werkzeug, mit dem sie in die Innensicht des Autors vordringen.
Was folgt danach?
Auf der zweiten Stufe geht es um Empathie. Damit meine ich nicht Mitleid, sondern den intellektuellen Perspektivwechsel und die Bereitschaft, durch die Brille des Hinweisgebers zu schauen. Um diese kognitive Empathie auszufüllen, muss der Meldestellen-Beauftragte wichtige sozialpsychologische Effekte kennen. Denken Sie beispielsweise an den Bystander-Effekt, der besagt, dass je länger ein Missstand andauert und je mehr Menschen diesen beobachten, desto geringer die Wahrscheinlichkeit einer Meldung wird. Das ist für einen Meldestellen-Beauftragten von besonderer Bedeutung.
Sollten Beauftragte bspw. einen Hinweis erhalten, in dem der oder die HinweisgeberIn über einen ihnen schon lange bekannten Missstand berichtet, könnten die Meldestellen-Beauftragten fälschlicherweise Zweifel an der Integrität des Hinweisgebenden hegen und zu einer anderen Sachverhaltseinschätzung kommen.
Zudem sollte der Meldestellen-Beauftragte alle gängigen, individuellen Ängste dezidiert kennen, denen sich Hinweisgeber ausgesetzt sehen. Da gibt es weitaus mehr als nur arbeitsrechtliche Konsequenzen. Wir haben diese Ängste aus der Forschungslage einmal für unsere Seminarteilnehmer als Hilfestellung extrahiert, damit sie sich leichter in die Situation des Whistleblowers einfinden können.
Reicht Empathie alleine schon aus?
Nein. Deshalb muss in einem nächsten Schritt eine vertrauensvolle und freundliche Verbindung zum Hinweisgeber aufgebaut werden. Man spricht hier von dem Begriff des Rapport (franz. Verbindung). Diesen Gedanken hatte man seinerzeit aus der Psychotherapie und -analyse auf Verhandlungssituationen übertragen. Man weiss, dass ein gutes Beziehungsklima nicht nur die Wirksamkeit einer therapeutischen Intervention erhöht, sondern sich Menschen auch viel einfacher überzeugen lassen.
Niemand möchte beispielsweise nur mit einem System kommunizieren, bei man nicht weiss, wer da antwortet. Menschen neigen zu Reaktanz, d. h. sie entwickeln innere Widerstände, wenn sie nicht vertrauen können. Der Meldekanal darf daher für sie keine Blackbox sein, die aus dem unbekannten Nichts antwortet.
Wie Sie eine Bindung aufbauen und Vertrauen gewinnen
Wie können die Beauftragten dies von vorne herein vermeiden?
Dafür sollten die Meldestellen-Beauftragten die eigene Hürde überwinden, sich depersonalisiert darzustellen. Es gibt in der Sozialpsychologie verschiedene Effekte und Reflexe, mit denen wir bei dem anderen Menschen Sympathie und Neugierde erzeugen können. Um die Bindung zu stärken, empfehlen wir, dass sich Meldestellen-Beauftragte auch anlasslos bei ihrem Hinweisgeber melden, um sich nach dessen Befinden zu erkundigen. Dies stärkt das Vertrauen in die Meldestelle als Rettungsanker.
Wenn man jetzt das Vertrauen nach den ersten Kommunikationen mit dem Hinweisgeber hinreichend gefestigt hat, wie können jetzt die Beeinflussungs- und Überzeugungstechniken eingesetzt werden?
Wenn man jetzt die Ängste und Befürchtungen des Hinweisgeber aus dem Text erkannt hat, kann man mit zwei unterschiedlichen psychologischen Ansätzen arbeiten, die auch parallel eingesetzt werden können.
Bei ersterem handelt es sich um das Modell des ‚Inneren Teams’, einem Model aus der psychologischen Verhaltenspädagogik, das wegen seiner hohen Variabilität auch in Zeugenschutzprogrammen Anwendung findet. Hierbei geht es darum, die aussagefördernden Absichten eines Hinweisgebers gezielt zu stärken, indem man sie plakativ überbetont und konstant wiederholt. Gleichzeitig müssen potentiell berechtigte Ängste, die sich argumentativ nicht entkräften lassen, ignoriert werden, weil dies sonst dazu führen können, dass sie sich bei dem Hinweisgeber konstituieren und er aus dieser Gedankenschleife nicht mehr herauskommt. Dieses Model hilft sehr stark dabei, die Entscheidungsgedanken des Hinweisgebers von aussen zu sortieren und steuern.
Und wie funktioniert der zweite Ansatz?
Die andere Überzeugungstechnik arbeitet mit sogenannten Heuristiken, deren Wirksamkeit hinreichend in der Sozialpsychologie untersucht ist. Das sind kognitive Reflexe oder Abkürzungen, mit denen wir Menschen uns täglich in einer komplexen Welt bewegen. Sie ersparen uns aufwendige gedankliche Rechenoperationen und erleichtern Entscheidungen insbesondere dann, wenn wir unsicher sind. Hiervon gibt es rund sechs an der Zahl. Eine dieser Heuristiken ist die Reziprozität: Menschen fühlen sich verpflichtet, etwas zurückzugeben, wenn man ihnen zuvor etwas Unerwartetes oder Persönliches gegeben hat. Dadurch entsteht Beziehung und gegenseitiges Vertrauen.
Können Sie hierfür ein Beispiel aus dem Alltag nennen?
Denken Sie z. B. an eine Geburtstagseinladung, mit der Sie nicht gerechnet haben. Sie werden sich verpflichtet fühlen, später eine Gegeneinladung auszusprechen. So können Sie beispielsweise einem Hinweisgeber mitteilen, dass Sie sich persönlich viele Gedanken zu seiner Situation und dem Fall gemacht haben und dies jetzt gerne mit ihm weiter erörtern würden. Hinweisgeber werden ein solches Verhalten wertschätzend empfinden und sich ihnen gerne weiter zuwenden.
Es geht also immer darum, den Hinweisgeber zu einer vollumfänglichen Kooperation zu bewegen und dazu bieten wir den Meldestellen-Beauftragten in unseren Trainings gerne unser Wissen an.
Vielen Dank für dieses spannende Interview, Herr Stuke. Wir freuen uns sehr, dass Sie unseren Kunden hier einen wirklich wichtigen Mehrwert bieten können.
Quellen:
¹Herold, Whistleblower. Entscheidungsfindung, Meldeverhalten und kriminologische Bewertung. Schriften zur Kriminologie., 2016, S. 87, 349.
²Helfferich/Kavemann/Rabe, Determinanten der Aussagebereitschaft von Opfern des Menschenhandels zum Zweck sexueller Ausbeutung. Eine qualitative Opferbefragung, 2010, S. 15
Whistleblowing-Gesetze in der Europäischen Union
Ein Blick auf die Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie in den EU-Mitgliedsstaaten